Interview mit Professor Dr. Sascha Feuchert
Mit Kindern über Anne Frank und den Holocaust sprechen
„Triff Anne Frank“ und "Wo ist Anne Frank - Die Hintergründe" entstanden in enger Zusammenarbeit mit Professor Dr. Sascha Feuchert von der Arbeitsstelle Holocaustliteratur an der Justus-Liebig-Universität Gießen. Im Interview gibt Prof. Feuchert Tipps, die euch bei Gesprächen mit euren Kindern über Anne Frank und den Holocaust unterstützen sollen.
Anne Franks Schicksal ist in vielerlei Hinsicht typisch für das Schicksal vieler Millionen Opfern der Nationalsozialisten. Sie erlebt viele Dinge, die sehr, sehr viele andere Menschen, die von den Nazis verfolgt wurden, auch erfahren haben.
Durch ihr Tagebuch bekommen wir einen sehr tiefen Einblick in genau diese Lebensgeschichte. Wir erfahren, was ihr und ihrer Familie und den anderen Versteckten passiert und widerfährt als sie sich vor den Nationalsozialisten in Amsterdam verstecken. Wir bekommen mit, wie dieses Mädchen, das langsam zur jungen Frau heranreift, mit ihren Ängsten und Hoffnungen umgeht, und wie schwer es ihr fällt, zwei Jahre untertauchen zu müssen.
Durch das Tagebuch ist Anne Frank heute zur Identifikationsfigur auf der ganzen Welt geworden. In vielerlei Hinsicht steht ihre Geschichte exemplarisch für die Geschichte des Holocaust.
Ich glaube, mit der Geschichte von Anne Frank kann man sich schon relativ früh beschäftigen, weil sie Kindern auch ein hohes Maß an Identifikation ermöglicht. Kinder können sich, glaube ich, sehr gut vorstellen, wie es sich anfühlen muss, wenn sich Menschen verstecken müssen, wenn sie das Haus nicht mehr verlassen können, wenn sie abgeschnitten sind von der Welt um sie herum. Insofern können auch schon ältere Grundschülerinnen und Grundschüler anfangen, sich mit der Geschichte von Anne Frank zu beschäftigen, das Programm „Triff Anne Frank“ ist ein dafür gut geeigneter Weg.
Das eigentliche Tagebuch empfehle ich, ab einem Alter von etwa zwölf Jahren zu lesen. Natürlich ist dies auch später möglich, es gibt ja nach oben keine Begrenzung. Das Tagebuch ist ein so hoch literarischer, toller Text, dass natürlich auch Erwachsene großen Gewinn daraus ziehen können.
Anne Franks Tagebuch ist ein einzigartiges Dokument, das von einem hochbegabten Mädchen verfasst wurde. Sie hat schon in einem sehr frühen Alter höchsten literarischen Ansprüchen genügt und lässt uns teilhaben an ihrer Entwicklung von einem Mädchen zur jungen Frau. Sie lässt uns in ihre Seele blicken und legt Konflikte offen.
Sie zeigt auch, dass sie ein widerspenstiger Teenager ist, dass sie auch ein normales Kind ist, das aber unter schrecklichen Umständen leben muss und auf das, was ihr da widerfährt, nicht vorbereitet war. Insofern ist dieses Tagebuch wirklich einzigartig und hat zu Recht diese enorme Bedeutung in der Welt.
Wenn man mit Kindern über den Holocaust spricht, dann sollte man vor allen Dingen Zutrauen haben - Zutrauen zu sich selbst, aber auch zum Kind. Man sollte das Fragebedürfnis des Kindes unbedingt ernst nehmen. Also nicht davor zurückschrecken Fragen zu beantworten, weil man Sorge hat, das Kind zu ängstigen oder zu traumatisieren. Das soll und darf natürlich nicht geschehen. Aber es ist dennoch wichtig, dass wir den Kindern die Möglichkeit geben, alles zu fragen, was sie fragen wollen. Und dass wir ihnen dann auch ehrliche Antworten geben.
Sicherlich muss man nicht in allen Details erzählen, was den Opfern der Nationalsozialisten widerfahren ist, aber man sollte auch nichts grundlegend beschönigen, das ist ganz wichtig.
Das besondere an diesen Zeitzeug:innengesprächen ist natürlich, dass hier Menschen berichten, die den Holocaust erlebt haben. Die auch mit ihrer Person und mit ihren Körpern bezeugen, dass das alles stattgefunden hat. Insofern ist das Wichtigste, dass man ihnen gut zuhört, dass man ihnen den Raum gibt, ihre Geschichte zu erzählen.
Wen man die Möglichkeit hat, sollte man auch Fragen stellen, Interesse zeigen an ihrer Geschichte, vielleicht auch später nochmal nachrecherchieren. Viele Zeitzeug:innen haben ihre Geschichte auch aufgeschrieben, so dass man sie noch einmal nachlesen kann.
Wichtig ist mir, dass man diese Geschichten individuell wahrnimmt, dass man versteht, dass der Holocaust kein abstraktes Geschehen war. Man muss verstehen, dass das sechs Millionen Individuen und Einzelschicksale waren. Und durch die Zeitzeug:innen-Interviews bekommen wir davon einen sehr, sehr guten Eindruck.
Wir sind die Nachfahren der Täter:innen-Gesellschaft. Insofern haben wir eine besondere Verantwortung. Es geht dabei nicht um Schuld. Die heutigen Generationen tragen selbstverständlich keine Schuld an dem, was damals passiert ist, aber wir haben als Gesellschaft, als deutsche Gesellschaft, dennoch eine besondere Verantwortung dafür, dass die Ereignisse erinnert und weitergegeben werden, dass sie nicht vergessen werden.
Wir haben auch eine besondere Verantwortung dafür, dass sie sich nicht wiederholen.